27.01.2023 Holocaust-Gedenktag in Obermenzing

Theresienstadt

Am 25.06.1942 wurde Trina Kuttner mit dem zehnten von insgesamt 24 Transporten in diesem Sommer aus München in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Wie alle diese Transporte umfasste er 50 Juden und Jüdinnen, die älter als 65 Jahre waren, Kriegsauszeichnungen erhalten hatten oder schwerkriegsbeschädigt waren. Die Maßnahme war Teil der Beschlüsse zur „Endlösung der Judenfrage“, die im Januar 1942 auf der Wannseekonferenz festgelegt worden waren. Dieser Gruppe von Juden wurde die „Abwanderung“ nach Theresienstadt als Privileg präsentiert, weil sie nicht in eines der Vernichtungslager im Osten verschleppt wurden.

Ein paar Tage vor der Deportation musste Trina Kuttner wie alle ihre Leidensgenossen den vom RSHA verordneten Heimeinkaufsvertrag abschließen. Darin wurde ihr vorgegaukelt, durch die Überschreibung ihres gesamten liquiden Vermögens Anspruch auf Unterbringung, Verpflegung, ärztliche Versorgung und Pflege auf Lebenszeit in dem luxuriösen Altersheim Theresienstadt zu haben. Hauptprofiteur dieser Ausplünderung war die SS, auf deren Sonderkonto die Vermögen überwiesen wurden. Wer nicht mindestens 1000 RM vorweisen konnte, wurde direkt in ein Todeslager geschickt.

Der Zielort Theresienstadt entsprach in keiner Weise den betrügerischen Versprechungen und den Vorstellungen der Deportierten, sondern war eine heruntergekommene, 1780 errichtete österreichische Festungsstadt in Nordböhmen am Zusammenfluss von Elbe und Eger. Die Stadt spielte eine zentrale Rolle für die „Endlösung der Judenfrage“: Aufgrund der Lage an der wichtigen Bahnstrecke Dresden – Prag wurde sie bereits ab Herbst 1941 zum Transitlager für die Transporte der jüdischen Bevölkerung aus dem Protektorat Böhmen und Mähren in die Vernichtungslager im Osten.

Auch sechs Familienangehörige von Simon Kahns Frau Martha, geb. Fantl, die 1933 aus Furth im Wald vor den Nazis in die Tschechoslowakei geflohen waren, befanden sich im Lager Theresienstadt, bevor sie in verschiedene Lager in Polen deportiert und im April 1942 ermordet wurden. Als Trina Kuttner zwei Monate später in Theresienstadt ankam, ahnte sie vom dortigen Aufenthalt der Fantls und der Auslöschung der ganzen Familie nichts.

Die Festungsstadt bot „ideale“ Voraussetzungen für die Unterbringung, denn es standen elf Kasernen als Massenquartiere für den unaufhörlichen Zustrom der aus ganz Europa hierher verschleppten Juden zur Verfügung. War Theresienstadt bis Ende Mai 1942 ausschließlich Sammellager und Zwischenstation für Juden aller Altersgruppen aus dem Protektorat, die in der Mehrzahl tschechischer Nationalität waren, änderte sich seine Funktion und die Zusammensetzung der Bewohner ab Sommer 1942 grundlegend: Die neuen Deportierten waren alte Menschen aus Großstädten im „Altreich“, aus Wien, der Hauptstadt der „Ostmark“, und deutschsprachige Juden aus Prag, die bis zu ihrem Tod hier verbleiben sollten.  

Für die alten Leute war bereits die Ankunft ein unvorstellbarer Schock. Sie waren in keiner Weise auf das vorbereitet, was sie erwartete: Die Zugfahrt endete im Bahnhof Bauschowitz. Die 3 km bis Theresienstadt, das erst im Herbst 1943 einen eigenen Bahnanschluss erhielt, mussten zu Fuß zurückgelegt werden. Dort erfolgte dann in der sog. Schleuse die Registrierung. Jeder Häftling bekam zur Identifizierung eine Kennnummer auf einem Pappschild, das er ständig an einer Schnur um den Hals zu tragen hatte. Bei der Kontrolle des Gepäcks konfiszierte das Aufsichtspersonal Wertsachen und persönliche Erinnerungsstücke, aber auch Überlebensnotwendiges wie Decken, Unterwäsche oder Waschzeug.

Die Kasernensäle, sog. Ubikationen, in denen bis zu 600 Menschen zusammengepfercht wurden, enthielten weder Möbel, Licht, Heizung, Wasser noch Toiletten. Es gab nicht einmal Matratzen, sodass die alten Menschen auf dem nackten Boden liegen mussten. Erst im Herbst 1942 wurden Strohsäcke verteilt, noch später Stockbetten aufgestellt. Da die Einwohnerzahl des Ghettos bis Ende September 1942 aufgrund der ständig anrollenden Transporte mit über 53.000 Bewohnern den Höchststand erreichte, – die ursprüngliche Bevölkerung belief sich im Jahr 1930 einschl. der dort stationierten Soldaten auf ca. 7.000 –, wurden auch die nichtgedämmten Dachböden belegt. Diese waren für viele der Alten über mehrere Treppen nur schwer zu erreichen, sodass sie ihre Schlafstelle oft nicht mehr verließen, bis sie dort elend starben.

Die Verpflegung aus der Lagerküche war ebenfalls unzureichend. Wer gehen konnte, musste seine Ration in einem Blechnapf an einer Ausgabestelle im Freien abholen, was Stunden dauern konnte, da sich lange Schlangen bildeten. Den Kranken wurde das Essen zwar gebracht, aber meist viel zu spät und inzwischen längst kalt geworden.

Für die Tausenden von betagten Menschen standen nur wenige Ärzte und Krankenpfleger zur Verfügung. Um der grassierenden Krankheiten und Epidemien Herr zu werden, wurden die Heiminsassen in sogenannten Entwesungseinrichtungen desinfiziert, vor allem von Kleiderläusen, die Flecktyphus übertrugen.

Am schlimmsten jedoch war die menschliche Entwürdigung, zur Nummer in einer verwahrlosten, ununterscheidbaren Masse geworden zu sein. Die Mehrzahl der betagten Ghettobewohner gehörte der städtischbürgerlichen Mittelschicht an und erlebte nun den völligen Verlust der Privatsphäre und den Raub des letzten persönlichen Besitzes als existenziell. Entscheidend für das Überleben war die psychische und physische Widerstandskraft. Trina Kuttner, eine Weltbürgerin, die in ihrem langen Leben viele Schwierigkeiten gemeistert hatte, ertrug Theresienstadt acht Monate, bis sie im Alter von 82 Jahren Anfang März 1943, möglicherweise aufgrund einer Typhusepidemie, starb. Die in ihrem Brief erwähnten und ebenfalls nach Theresienstadt deportierten Verwandten aus Memmelsdorf, das Ehepaar Clara und David Kaufmann sowie Klara Stein, waren dort bereits im Herbst 1942 ums Leben gekommen.

Die Haupttodesursachen waren Unterernährung, Infektionskrankheiten, Epidemien und Suizide. Im Monat September 1942 erreichte die Sterbeziffer mit 3.941 den Höchststand. Der Grund dafür waren die ununterbrochen eintreffenden Transporte, da Deutschland und Österreich ohne Rücksicht auf das schon vorher völlig überfüllte Ghetto im Eilverfahren „judenrein“ gemacht werden sollten. Während die Verstorbenen noch zu Beginn des Sommers nach einer rituellen Verabschiedung in einem Zeremonienraum in Einzelgräbern auf dem jüdischen Friedhof bestattet worden waren, wurden sie bald aus Platzmangel in Massengräbern beerdigt. Nach dem Bau des Krematoriums im September 1942 wurde die Asche der Verstorbenen in Papierurnen gefüllt und in die Eger gestreut. Das geschah auch mit der Asche von Trina Kuttner.

Um die katastrophalen Zustände im Ghetto in den Griff zu bekommen, verfügte die SS, ab Mitte September bis Ende Oktober 1942 neun sog. Alterstransporte mit insgesamt 13.442 Juden in die Vernichtungslager zu schicken. Da die Deportationen ins Ghetto danach bis in das Frühjahr 1943 ausgesetzt wurden, nahmen Bevölkerungszahl und Sterbeziffer rapide ab. Doch die Angst vor einer bevorstehenden Verschickung in den Tod blieb allgegenwärtig.

Heute ist Theresienstadt eine tschechische Kleinstadt. Nur die Gedenkstätten, die nach der Wende 1990 eingerichtet wurden, wie das Ghettomuseum, Ausstellungsräume in den Kasernen und Kasematten sowie das Krematorium auf dem jüdischen Friedhof, legen noch Zeugnis davon ab, welche ungeheuerlichen Verbrechen in diesem Ort an den Juden verübt wurden.

Doris Barth


 

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